Bürgerdelphi Keimbahntherapie

Deliberative Verfahren zur Bürgerbeteiligung an forschungs- und gesellschaftspolitischen Entscheidungen: Wie aussagekräftig sind die Resultate?

„Sollen Ärzte zur Verhinderung von Krankheiten gezielte Änderungen des menschlichen Erbguts vornehmen?“ Diese Frage war Gegenstand des Beteiligungsverfahrens „Bürgerdelphi Keimbahntherapie“ (Buedeka), das wir von Ende April bis September 2018 mit einer Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern durchführt haben. Das Verfahren versteht sich explizit als Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern an forschungs- und gesellschaftspolitischen Fragen (im Sinne von Responsible Research and Innovation).

Die Resultate des Projekts wurden anlässlich einer Abendveranstaltung im Rahmen der Berlin Science Week am 06. November 2018 öffentlich präsentiert. Ein zentraler Befund:

Eine überwiegende Mehrheit der Teilnehmenden befürwortet eine Liberalisierung des in Deutschland bestehenden Verbotes von Forschung zur Keimbahntherapie.

Wie ist dieses Resultat zu verstehen? Oder, allgemeiner gefragt: Welche Aussagekraft haben können Ergebnisse deliberativer Verfahren, zu denen auch das Bürgerdelphi zählt, überhaupt haben? Natürlich können die Stimmen von 26 Teilnehmenden, die nicht einmal per Zufallsentscheid ermittelt wurden und die nach reiflicher Überlegung zu einem Urteil gefunden haben, nicht stellvertretend für 82,5 Millionen Menschen in Deutschland sprechen. Was dann aber folgt aus den Resultaten? Drei Antworten.

 

1. Meinungsmuster

Resultate des Bürgerdelphis belegen die Validität von bestimmten Argumentationsmustern. So wurde, als Begründung für die Notwendigkeit einer Aufhebung des in Deutschland bestehenden Forschungsverbotes, von den Teilnehmenden vielfach folgende Begründung genannt:

„Auch wenn ich die Risiken der Keimbahntherapie für signifikant erachte und skeptisch bin, was den möglichen Nutzen betrifft: Ich befürworte eine Lockerung des Forschungsverbotes – und zwar deshalb, weil Deutschland nur dann eine aktive Rolle in der internationalen Regulierung der Keimbahntherapie spielen kann, wenn deutsche Forscher auch auf dem Feld tätig sind.“

Zwei Punkte lassen sich daraus ableiten:

  1. Eine Begründung der genannten Art („damit Deutschland … eine aktive Rolle … spielen kann“) ist nicht völlig unlogisch. Das heißt: In den Resultaten spiegelt sich wieder, welche Argumentationsfiguren als ‚logisch‘ akzeptiert werden können.
  2. Viele der Teilnehmenden haben aus der genannten Begründung tatsächlich für sich abgeleitet, dass die Forschung liberalisiert werden sollte. Eine relevante Untergruppe der Teilnehmenden hat dies getan, obwohl sie die Risiken als signifikant erachten und den Chancen skeptisch gegenüberstehen. Die Resultate beinhalten somit Hinweise auf die grundsätzliche Akzeptanzfähigkeit von Begründungen. Am Beispiel: Die Begründung „weil Deutschland dann eine aktive Rolle bei der Regulierung spielen kann“ ist grundsätzlich akzeptanzfähig für Personen, die ansonsten die Chancen der Keimbahntherapie für wenig signifikant und die Risiken für beträchtlich halten.

Andere Formen von Meinungsmustern betreffen nicht die individuelle Argumentation, sondern das Kollektivurteil. Hier stechen Konsens und Dissens besonders hervor. Ein Beispiel: extremer Dissens herrschte in Bezug auf die Frage, ob Enhancement (d.h. Optimierung des Menschen über das Maß hinaus, welches mit konventionellen Mitteln wie zum Beispiel Training zu erreiche wäre) an sich abzulehnen ist.

Im Durchschnitt standen die Teilnehmenden dem Thema Enhancement mit einer Wertung von 7,0 Punkten deutlich ablehnend gegenüber.

Diese Frage führte (mit einer Standardabweichung von 3,4 Punkten) wie keine andere zu einer Polarisierung der Teilnehmenden. In anderen Fragen hingegen zeichnete sich ein deutlicher Konsens ab, wobei dieser Konsens in einigen Fällen auf einen „Konsens der Mitte“ hinauslief und in anderen Fällen auf einen „Konsens im Extrem“.

“Konsens im Extrem“

“Konsens der Mitte“

Auch wenn nur 26 Personen am Bürgerdelphi teilgenommen haben, so darf man vermuten, dass diese ausgeprägten Meinungsmuster auch von einem Verfahren bestätigt werden würde, welches eine größere Anzahl von Teilnehmenden einbezöge, die gleichzeitig in Bezug auf die Gesamtbevölkerung repräsentativer sind als dies bei Buedeka der Fall war.

2. Weisheit der Vielen

Wenn es um die Schätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit eines zukünftigen Ereignisses geht oder um die Schätzung einer Menge oder einer Größe, dann ist es eine mathematische Gesetzmäßigkeit(https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2005/die-mitte/schlaue-menge), dass das Durchschnittsurteil einer Gruppe (unter bestimmten Umständen) wahrscheinlich näher am wahren Wert ist als das Urteil eines beliebigen Einzelnen. Mit anderen Worten: Wenn man nicht mit Sicherheit sagen kann, wer Experte oder Expertin ist für die Schätzung einer Größe oder die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses, dann liegt man besser, wenn man Mr. Durchschnitt fragt.

Bei vielen der empirischen Punkte, die es zu beantworten gilt, um zu Handlungsempfehlungen in Bezug auf die Keimbahntherapie zu gelangen, geht es um genau solche Fragen: Fragen, bei denen Expertinnen oder Experten nur sehr schwierig zu identifizieren sind. Ein Beispiel: Wie glaubwürdig ist die Immunisierung gegen Infektionskrankheiten (wie z.B. HIV) als langfristiges Ziel der Keimbahn-therapie? In eine Antwort auf diese Frage fließen Hypothesen ein über:

  • die Wahrscheinlichkeit, mit der es in erwartbarer Zukunft möglich sein wird, via Keimbahntherapie nicht nur monogenetische, sondern auch polygenetische Strukturen am menschlichen Embryo gezielt verändern zu können
  • die Wahrscheinlichkeit, mit der sich die Keimbahnveränderung von Embryonen in der breiten Bevölkerung durchsetzt (was nicht möglich ist ohne die gleichzeitige Umstellung von konventioneller auf künstliche Befruchtung, die ihrerseits bestimmte Risiken birgt)
  • die Relevanz von Immunisierung gegen Infektionskrankheiten in Bezug auf die Notwendigkeit, weitere Schritte in Richtung Keimbahntherapie zu gehen
  • die Prognosesicherheit, mit der man die beiden genannten Wahrscheinlichkeiten einschätzen kann
  • den Schlüssel, mit dem die beschriebenen Annahmen am besten miteinander verrechnet werden

Einen Experten zu finden, von dem man sicher sein kann, dass er für die Beantwortung all dieser fünf Fragen qualifiziert ist, dürfte schwierig sein. Vor diesem Hintergrund fährt man wahrscheinlich nicht schlecht, auf den Durchschnitt zu setzen.

Zum Hintergrund: In empirischen Studie wurde der Effekt der „Weisheit der Vielen“, die ein besseres Urteil erzielt als Experten, bereits vor Jahrzehnten von dem Psychiater Lewis Goldberg mit Gruppen von unter dreißig Teilnehmern nachgewiesen. Neuere Arbeite gehen davon aus, dass ab einer Gruppengröße von einhundert Personen keine nennenswerten Steigerungen in der „Gruppenweisheit“ erzielt werden (Wagner und Suh, „The Wisdom of Crowds“, 2014).

Die 26 Buedeka-Teilnehmenden – allesamt Laien – beurteilten die Glaubwürdigkeit der Immunisierung gegen Infektionskrankheiten (wie z.B. HIV) als langfristiges Ziel der Keimbahntherapie mit 4,5 Punkten (auf einer Skala von 1 = überhaupt nicht glaubwürdig bis 10 = höchst glaubwürdig). Vermutlich liefern sie damit eine recht gute Orientierung.

3. Argumentative Recherche

Ein dritter Aspekt, wo deliberative Verfahren robuste Resultate erzielen können, obwohl nur vergleichsweise wenige Teilnehmer involviert sind, die allesamt keine Expertinnen oder Experten darstellen, ist die argumentative Recherche (argumentative inquiry).

Bürgerinnen und Bürger müssen, anders als Politiker und viele Expertinnen, nicht strategisch agieren. Sie müssen keine Parteilinie stärken und sie vertreten keine professionellen Interessen. Bürger und Bürgerinnen können zudem unverblümter fragen. Dadurch werden manchmal Aspekte stärker betont, die in reinen Expertenrunden leicht untergehen. Oft handelt es sich dabei um verborgene Prämissen, die für das finale Urteil in hohem Maße relevant sind.

Ein Beispiel dafür aus Buedeka: Es geht um die Sorge darüber, dass die Einführung der Keimbahntherapie auf breiter Front zu einer Verringerung von sozialer Fairness und Chancengleichheit führen könnte. Das Argument: Mit der Keimbahntherapie wird es möglich sein, auch auf Eigenschaften wie Intelligenz hin zu optimieren. Eine solche Optimierung wird allerdings nicht nur einer wohlhabenden Klientel zugänglich sein. Beides, die biotechnologische Machbarkeit sowie die Einschränkung der neuen Möglichkeiten auf eine exklusive Klientel, muss gegeben sein, damit die Sorge tatsächlich begründet ist. Soweit die initiale Überlegung.

Buedeka-Teilnehmende fanden jedoch heraus, dass noch eine dritte Prämisse sich bewahrheiten muss: Nur dann, wenn eine optimierte Intelligenz tatsächlich Effekte auf praktischen Erfolg im Leben hat, wird es zu der befürchteten Ungleichheit kommen. (Dass dies der Fall ist, beurteilten die Teilnehmenden mit 4,4 von 10 möglichen Punkten.)

 

Verborgene Prämisse, explizit gemacht: Nur dann, wenn eine optimierte Intelligenz tatsächlich Effekte auf praktischen Erfolg im Leben hat, wird es zu der befürchteten Ungleichheit kommen.

 

Fazit

Auch wenn ein deliberatives Verfahren, wie im Falle von Buedeka, mit nur 26 Teilnehmenden durchgeführt wurde, die allesamt Laien sind, lassen sich dennoch robuste Resultate erzielen.

Was die Dimension der Meinungserhebung betrifft, so sind die identifizierten Meinungsmuster sowohl was das Kollektiv betrifft wie auch Argumentationsfiguren auf individueller Ebene sehr vermutlich zu gewissen Grad verallgemeinerbar.

Auf Sachebene kann man begründet vermuten, dass die „Weisheit der Vielen“ bereits bei einer Gruppe von 26 Teilnehmenden in Bezug auf komplexe Fragestellungen, bei denen Entscheidungen unter Ungewissheit eine prominente Rolle spielen, einen einigermaßen verlässlichen Schätzwert produziert. Auch was das Auffinden von versteckten Prämissen betrifft, die in hohem Maße urteilsrelevant sind, sind bereits relativ kleine Gruppen in der Lage, zumindest einige verborgene Prämissen ausfindig gemacht, die zuvor in der Debatte nicht präsent waren.

Autor: Dr. Ralf Grötker war in dem vom BMBF geförderten und vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) realisierten Projekt „Buedeka“ (2017-2019) verantwortlich für die Konzeption und die Realisierung des Beteiligungsprozesses sowie Redakteur für Web-Texte und Ergebnisbericht.