Bürgerversicherung – auf welche Strategien können Befürworter und Gegner bauen?

Ein Skizze (siehe unten) der Sachlage zeigt: Neben umstrittenen Argumenten sind auch möglicherweise unvereinbare Zielsetzungen der Grund dafür, dass die Entscheidung Für und Wider die Bürgerversicherung eher eine komplexe Aufgabe zu sein scheint. Hinzu kommen unterschiedliche Varianten in der Ausgestaltung der Bürgerversicherung (Was geschieht mit der Beitragsbemessungsgrenze? Soll die Private Krankenversicherung ganz abgeschafft werden oder nur sehr unattraktiv gemacht werden?).

Trotz der komplexen Sachlage sind die Möglichkeiten für die Kontrahenten eher einfach.

Befürworter

Für den Hinterkopf: Befürworter müssen zunächst erreichen, dass das Thema „Bürgerversicherung“ überhaupt erst einmal ernsthaft in Erwägung gezogen und im Detail diskutiert wird! Entsprechend sollte ihre Strategie darin bestehen, zunächst mit einfachen und interessanten Argumenten für das Thema zu werben. Diese Argumente müssen aber dennoch ’sitzen‘!

Befürworter der Bürgerversicherung haben mit ihrem Argument, dass die neue Versicherung die bestehende Ungleichheit zwischen den Versicherten beheben soll, bereits den Disput eröffnet. Diese Behauptung ist einfacher aufzustellen als zu widerlegen, was für die Befürworter von Vorteil ist. (Die Umfrageergebnisse, die für die Bürgerversicherung sprechen, könnten auf das Konto dieses Effektes gehen.)

Steigt man auf Sachebene in die Argumente ein, zeigt sich jedoch, dass der behauptete Gerechtigkeitsgewinn höchst umstritten ist. Wenn die Befürworter nachhaltig ihre Position behaupten wollen, müssten sie zeigen: Selbst dann, wenn finanziell wohlhabende Patienten durch Zusatzversicherungen oder als Selbstzahler mehr oder bessere medizinische Leistungen in Anspruch nehmen können, führt die Abschaffung des Privatpatienten-Status zu mehr Gerechtigkeit. (Was ja nicht unplausibel wäre: Es wird niemand bei der Terminvergabe bevorzugt. Alle erhalten gleich viel Aufmerksamkeit. Nur kriegen eben die Zuzahler eine zusätzliche Behandlung XY.) Gelingt es dem Befürworter nicht, den Zugewinn an Gerechtigkeit erfolgreich zu verteidigen, risikiert er, als unbotmäßiger Vereinfacher aus dem Rennen zu scheiden, der in populistischer Manier auf die unreflektierte Zustimmung der Bevölkerung setzt.

Zweitens sind die Befürworter in der Pflicht zu zeigen, dass die Bürgerversicherung tatsächlich mehr Geld in das öffentliche Gesundheitssystem bringt und die Finanzierung der medizinischen Versorgung für den Großteil der Bevölkerung mit dem neuen Modell besser gesichert wäre. (Bislang scheint dieser Nachweis nicht wirklich schwarz auf weiß erbracht worden zu sein.)

Gegner

Gegner sind, strategisch betrachtet, im Vorteil. Ihnen muss es lediglich gelingen, die Sache so darzustellen, dass die Bürgerversicherung insgesamt zumindest umstritten ist und viele Probleme im Detail liegen. Dies kann jede weitere Diskussion bereits im Keim ersticken. Zudem spielt die Tatsache, dass für die Etablierung ein – einigermaßen funktionierender – Status quo geändert werden muss, in die Hände der Gegner. Die Beweislast liegt eher auf den Seiten der Befürworter der Bürgerversicherung als auf den Seiten der Gegner. Befürworten müssen beweisen. Gegner müssen lediglich plausiblen Zweifel geltend machen, um ihr Ziel zu erreichen.

Gegner der Bürgerversicherung haben ihr Ass bereits ausgespielt. Die kontraintuitive Überraschung: Die Bürgerversichterung wird das Gegenteil dessen bezwecken, was sie bezwecken soll!

Für weitere Interventionen hat der Gegner verschiedene Optionen. Er kann sich auf einige wenige Argumente konzentrieren oder die Vielzahl der Argumente und Zielsetzungen in den Blick nehmen. Und er kann direkt auf die Befürworter reagieren – oder ein eigenes Fass aufmachen, indem er einen anderen Themnschwerpunkt zu lancieren versucht.

Was wäre empfehlenswert? In der großen Öffentlichkeit kann das Jonglieren mit allzu vielen Argumenten eher den Anschein von Ablenkungsmanövern erwecken und deshalb Ablehnung produzieren. Anders in in kleinerem Kreis: Hier kann der Gegner sich als sachkundiger Gesprächspartner profilieren, indem er die Details zu den Sachfragen parat hat. Wichtig (für beide Seiten): Wer (vor Publikum) ein Argument für sich entscheiden kann, erzielt damit auch einen Glaubwürdigkeitsgewinn. Wer allerdings bei dem Versuch, ein Argument für sich zu entscheiden, scheitert, der macht Minuspunkte! Wichtig ist daher einmal die Sachlage, dann aber auch die Überzeugungskraft von Argumenten. („Gerechtigkeit“ zieht gut, weil vielen Menschen aus ihrer Erfahrung als Patienten vertraut. „Staat in Gefahr, wenn Beamte nicht mehr mit Aussicht auf die Vorzüge der Privatversicherung für den Job geködert werden können“ – siehe Beamtenbund – , zieht wohl eher schlecht.)

Die Große Chance der Gegner: Das Argument, dass die Qualität medizinischer Versorgung sich mit der Bürgerversicherung für alle verschlechtern würde. Dieses Argument ist unabhängig von dem behaupteten Gerechtigkeitsgewinn. Zudem macht es eine Zielvariable geltend, die von den Befürwortern gar nicht angesprochen wurde. (Es behauptet ja niemand, dass mit der Bürgerversicherung die Versorgungsqualität besser würde.) Dies macht das Argument schlechteren Versorgungsqualität prima facie erst einmal einleuchtend.

Soviel in Kürze. Hier die Übersicht:

Einflussdiagramm: Die Bürgerversicherung als ‚Eingriff ins System‘. Umstritten: Ob die Finanzierung des Gesundheitssystem von den durch die Bürgerversicherung angestossenen Effekten insgesamt profitiert. Ob die BV zu mehr Versorgungsgerechtigkeit führt. (Einwand der Gegner: Betuchte Patienten werden sich auch weiterhin Zusatzleistungen einkaufen, die nicht für jedermann erschwinglich sind.) Ob die BV tatsächlich zu mehr Beitragsgerechtigkeit führt. (Argument der BV-Gegner: Über die Lebenszeit zahlen im jetzigen System Privatversicherte genau so viel wie gesetzlich Versicherte.). Ob die Einführung einer BV (bei gleichzeitigem Weiterbestehen der PKVen) den Innovationsdruck reduziert, der auf die BV/gesetzliche Krankenversicherung ausgeübt wird – so dass das Niveau der medizinischen Versorgung für die BV-Patienten sinkt. Zusätzlich bestehen mögliche Zielkonflikte z.B. zwischen Gerechtigkeit und Sicherstellung guter medizinischer Versorgung.