Fallbeispiel: „Süße Droge Zucker“

Kognitives Mapping einer Talksendung (Menschen bei Maischberger, 25.05.2016).

Die Moderatorin beginnt die Sendung mit der Präsentation einiger zentraler Thesen, die im Laufe der Diskussion immer wieder aufgegriffen werden:
• „Zucker macht krank.“
• „Zucker macht süchtig.“
• „Die Lebensmittelindustrie ist verantwortlich für den enormen Zuckerkonsum. Sie täuscht den Verbraucher.“
• „Es gibt keine ungesunden Lebensmittel.“

Moderatorin: „Wenn ich nachmittags Heißhunger auf einen Riegel habe, signalisiert mein Körper mir damit, dass er neue Glukose zum Denken braucht? Sollte ich diesem Impuls nicht nachgehen?“
Studiogast Susanne Holst (ARD-Journalistin und Medizinerin): „Der Zuckerriegel, den man als Pausensnack zu sich nimmt, führt schnell dazu, dass der Blutzuckerspiegel steigt. [Die Folge:] Es wird Insulin ausgeschüttet. Der Blutzucker rauscht runter und geht dann unter einen Normalwert. Und davon bekommt man dann richtig Heißhunger und steht eine halbe Stunde später wieder am Riegel-Automaten.“

Einflussdiagramm: Der Teufelskreis des Zuckers nach Susanne Holst. Der Genuss von Süßem ruft erneutes Verlangen nach Süßem hervor. Es entsteht eine ‚Momentsucht‘. To do: Entspricht diese Darstellung tatsächlich dem Stand des Wissens?

In den ersten Minuten der Sendung werden darüber hinaus im Gespräch zwischen den Studiogästen weitere vermutete Wirkungszusammenhänge skizziert:
• „Zuckerverzehr verursacht Karies.
• „Zuckerverzehr kann zu Diabetes führen.“
• „Zuckerverzehr verursacht Fettleibigkeit.“
• „Auch Fettverzehr und Bewegungs-mangel verursachen Fettleibigkeit.“

Einflussdiagramm der vermuteten Wirkungszusammenhänge. Die Zielgrößen: die Vermeidung von Diabetes, Karies und Fettleibigkeit.

Der Studiogast Uwe Knop, Journalist, behauptet: „Es fehlt der wissenschaftliche Beleg dafür, dass Zucker dick oder krank macht.“ Knop beruft sich dabei auf Metastudien, in denen eine Vielzahl von gesundheitsstatistischen Erhebungen ausgewertet wurden. Die Diskutanten erzielen im Laufe der Sendung Einigkeit darüber, dass neben dem Zucker viele andere Faktoren Fettleibigkeit begünstigen.

Ergänzte Kausalbeziehungen. Was sofort ins Auge fällt: Es ist schwierig, den Zucker als Verursacher von Fettleibigkeit zu entlarven. Zu viele andere Faktoren sind im Spiel. Zucker ist zudem nicht die unmittelbare Ursache für Fettleibigkeit: Auf die Energiedichte kommt es an.

Unter die Lupe genommen: Die Medizinjournalistin Holst erläutert, warum ein Zusammenhang zwischen Zucker und Diabetes Typ 2 wahrscheinlich ist.

Kausalmodell, das einen Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum und Diabetes Typ 2 plausibel erscheinen lässt.

Der Journalist Knop gibt Kontra:Er weist darauf hin, dass in gesundheitsstatistischen Studien kein Zusammenhang zwischen Zucker und Diabetes Typ 2 festgestellt werden konnte.

Die Politikerin Renate Künast, ebenfalls Studiogast erkennt in der Fettleibigkeit eine Volkskrankheit und verlangt von der Politik, „ …dass wir versuchen die Stoffe [die für Fettleibigkeit verantwortlich sind] zu reduzieren.“

Gedankengang Künast

Zentral ist hier Frage, ob in einer Bevölkerung, in der weniger Zucker konsumiert wird, auch weniger Fettleibigkeit herrscht. Wenn dies nicht der Fall wäre, dann wären Politikmaßnahmen zur Reduzierung des Zuckerkonsums hier nicht gerechtfertigt. (Sie könnten jedoch an anderer Stelle ihre Berechtigung zur Eindämmung von Karies und Diabetes Typ 2 haben.)

So sieht die argumentative Last aus, die Renate Künast schultern müsst. Zentrale Annahmen des Argumentes werden jedoch angezweifelt.

Der Journalist Knop bezweifelt die These, dass Übergewicht ein bedeutendes Problem in Deutschland ist: „75 % sind normalgewichtig. Der Rest ist eher untergewichtig als übergewichtig“.

Themenwechsel. Maischberger versucht im weiteren Verlauf der Sendung die Fragen zu klären:
• Wie viel Zucker konsumieren wir tatsächlich?
• Was ist als Zucker in den Inhaltsangaben auf Lebensmitteln ausgewiesen?
• Welche weiteren Inhaltsstoffe zählen für den Gesetzgeber nicht als Zucker, obwohl sie chemisch betrachtet darunter fallen?
Dazu konsultiert sie zwei Experten: Christoph Minhoff (Sprecher der Lebensmittelindustrie) und Armin Valet (Verbraucherzentrale Hamburg). Das Resultat:

Die Concept Map macht deutlich, dass (a) nicht jeder Zucker in den Inhaltsangaben von Lebensmitteln als solcher aufgeführt wird und (b) Statistiken zum Zuckerverzehr zu widersprüchlichen Ergebnissen führen können, je nachdem, welche Zuckerarten berücksichtigt werden.

 

In der folgenden Diskussion wird die Lebensmittelindustrie für den hohen Zuckerkonsum verantwortlich gemacht: Sie täusche die Verbraucher bewusst über den wahren Zuckergehalt ihrer Produkte. Deshalb wären Verbraucher gar nicht in der Lage, ihren Zuckerkonsum selbst zu kontrollieren. Die Politik müsse dagegen einschreiten.

Detailrekonstruktion der Position der Befürworter einer politischen Intervention. Grün: Annahmen die (sofern sie stimmen) die Position stützten. Rot: Gegenargumente.

 

Anmerkung: Die Argument-Rekonstruktion führt Argumente auf, die tatsächlich so vorgetragen wurden. Darüber hinaus
• macht sie die explizit kenntlich, welche weiteren Annahmen plausibler Weise nötig sind, um die zur Diskussion stehende Hypothese zu stützen (wie „effektiver… als an anderen Ursachen .. angreifen“)
• spitzt sie eingebrachte Informationen so zu, dass diese argumentativ verwertbar sind („Suchtcharakter“ als Evidenz dafür, dass Interventionen bezüglich des Zuckerkonsums besonders effektiv sind).

Weiterführende Fragen: Angenommen, es wäre erwiesen dass eine Politikmaßnahme, die am Zuckerkonsum ansetzt, notwendig und zielführend ist: wie sollte diese Maßnahme aussehen?

Die Diskussion von Handlungsoptionen hat in der Sendung jedoch nicht wirklich stattgefunden, deshalb bleibt die Frage, welche Politikmaßnahmen geeignet sind, noch zu klären.

Nicht erwiesen: der Täuschungsvorwurf. Aber auch ohne von der Industrie getäuscht zu werden, könnten Verbraucher schlecht informiert sein. Würden sie andere Produkte wählen, wenn sie besser informiert wären?

Annahmen, von denen zweifelhaft ist, ob sie wahr sind oder nicht, bringen das ganze Argument ins Wackeln.

Fazit

Offen blieben in der Sendung die Fragen:
(a) „Führt eine Verringerung des Zuckerkonsums zu weniger Fettleibigkeit in der Bevölkerung? Und: führt ein zu hoher Zuckerkonsum zu Diabetes Typ 2?“
(b) „Würden besser informierte Verbraucher sich für weniger zuckerhaltige Produkte entscheiden?“
(c) „Wird der Verbraucher durch die Industrie getäuscht?“

Zu (a) Beide Fragen sind in hohem Maße relevant, wenn es darum geht, ob die Politik handeln sollte.
Zu (b): Die Frage wird dann relevant, wenn zwischen mehreren geeigneten Politikmaßnahmen ausgewählt werden muss. (Optionen für Politikmaßnahmen waren nur am Rande Thema der Sendung).
Zu (c): Der Vorwurf der Täuschung würde – wenn er sich erhärtete – der Forderung nach besseren Verbraucherinformationen Nachdruck verleihen. Aber auch dann, wenn man den Vorwurf der Täuschung fallen ließe, gäbe es immer noch ausreichend Grund für eine Verbesserung der Verbraucherinformation: Besser informierte Verbraucher würden (mutmaßlich) weniger Zucker zu sich nehmen und wären (mutmaßlich) weniger krank.

Vorteile des kognitivem Mappings:
• Kognitives Mapping übersetzt Diskussionsinhalte in Darstellungsformate, die es ermöglichen, die wesentlichen Statements und Vorschläge kritisch auf Vollständigkeit und Richtigkeit zu überprüfen.
• In der Diskussion befindliche Inhalte werden mit Blick auf die definierten Ziele oder zentralen Fragen geordnet, um die ihnen innewohnenden Annahmen ergänzt und priorisiert.
• Klärungsbedarf für die weitere Entscheidungsfindung wird klar herausgearbeitet.
• Effekten des Gruppendenkens und anderer Gruppendynamiken, die in Teamsituationen und bei Präsenzveranstaltungen oftmals Resultate und Wahrnehmung einer Diskussion stark beeinflussen, wird ein Korrektiv entgegengesetzt.