Keine Kritik – defer judgement: diese Empfehlung ist, als Grundregel für die Brainstorming Sitzung oder als eines der “12 Gebote des Design Thinking” weithin bekannt. Zweck der Empfehlung: Bedenkenträgern, Nörglern, Besserwissern und Veränderungsmuffel soll Einhalt geboten werden. Kein „Haben wir schon ausprobiert“, „Zu teuer“ oder „Wir sollten das im Hinterkopf behalten“. Schließlich könnte sich unter den vielen unausgegorenen Ideen, die im Team gesammelt werden, sich doch vielleicht eine Perle verstecken könnte. Keine Kritik – sage Ja! Jeder soll sagen und sagen dürfen, was ihm einfällt. Das ist nicht nur egalitär, sondern auch eine gute Voraussetzung dafür, dass die Team-Mitglieder sich ermutigt fühlen, überhaupt Vorschläge einzubringen.
Aber: wann ist die „Keine Kritik“-Phase zu Ende? Wo folgt auf die Phase der Ideenfindung eine Weiterentwicklung erster Vorschläge im Lichte von oft nur allzu offensichtlichen Einwänden? Mir scheint: Oft genug geschieht dies gar nicht – einfach deshalb, weil Ergebnisse von Ideenfindungs-Workshops nicht danach beurteilt werden, ob aus den Resultaten am Ende tragfähige Lösungen entstehen, sondern ob der Kreativprozess selbst als inspirierend erfahren wird.
Ich glaube, dass es ein Fehler ist, Kritik aus dem Kreativprozess zu verbannen, so wie dies sich das Design Thinking auf die Fahnen schreibt. Es gibt keinerlei Nachweise dafür, dass die Keine-Kritik-Regel, alles in allem betrachtet, wirklich zu besseren Resultaten bei der gemeinsamen Ideenfindung führt. Dass das Prinzip „Keine Kritik!“ weithin akzeptiert ist, sollte einen nicht sonderlich beeindrucken. Auch Brainstorming in Gruppen ist weithin gängige Praxis – obwohl alle wissenschaftlichen Untersuchungen darauf hindeuten, dass die Teamarbeit bei der Ideenfindung die Kreativität eher behindert.
Kreativität und Kritik sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich gegenseitig. Denn erst in der Auseinandersetzung mit Kritik können vorhandene Lösungsvorschläge weiter entwickelt und geschärft werden. Solange dies respektvoll geschieht, wird damit die Ideenentwicklung nicht gebremst, sondern im Gegenteil gefördert. Umgekehrt gilt das gleiche: Erst im Lichte alternativer Lösungsvorschläge lässt sich beurteilen, ob eine gegebene Idee wirklich die beste ist; erst im Vergleich konkurrierender Hypothesen wird ersichtlich, ob eine anfänglich plausible Vermutung wirklich die überzeugendste Erklärung für die beobachteten Tatsachen ist; erst angesichts verschiedener möglicher Geschichten eines Tatverlaufes gewinnen einzelne Indizien an Bedeutung und Beweiskraft.
Ob kritisch oder kreativ – auf das Wesentliche heruntergekocht, kommt es bei der Problemlösung vor allem auf zwei Punkte an:
- Bei der Suche nach Lösungen darf kein wesentlicher Punkte übersehen werden
- Die Entscheidungsfindung muss wirklich die beste (oder eine sehr gute) Lösung herausfiltern
Beides lässt sich nur bewerkstelligen, indem man bei der Ideenfindung Methoden des kritischen und des kreativen Denkens zusammen bringt, anstatt jede Form von fruchtbarer Kritik aufgrund des „Keine Kritik!“-Prinzips erst einmal zu unterbinden.