Fallbeispiel Entscheidungsanalyse: Die feministische Kritik am Kopftuch

13.07.2017

Eine Debatte zum Thema Kopftuch, Lehrerinnen und Neutralitätsgesetz: „Darf es ein Kopftuchverbot geben?“ (siehe auch den Beitrag „Wir brauchen eine öffentliche Debatte„). Die Feministin Judith Sevinc Basad, Mitbegründerin der Initiative Liberaler Feminismus, schreibt: 

Die Ablehnung, die kopftuchtragende Frauen in Deutschland zu spüren bekommen, mag für die Betroffenen eine schmerzhafte Erfahrung sein. Dennoch müssen sich Muslimas in Deutschland darüber bewusst sein, welche Bedeutung das Tuch in der Mehrzahl der muslimischen Länder einnimmt – und mit Kritik umgehen können.“

Zu Unrecht, meint Basad, würden:

„.. .kopftuchtragende Frauen (…) nicht (…) als Opfer des islamischen Patriarchats, sondern als Opfer deutscher Rassisten begriffen.“

Tatsächlich begehe

„… nicht die westliche Gesellschaft, die den Hijab nicht akzeptieren will, [einen Fehler], sondern das islamische Patriarchat, das für die negative Bedeutung des Schleiers verantwortlich ist.“

Um quasi unter der Lupe zu rekonstruieren, welche argumentativen Schachzüge Basad mit dieser Intervention ausführt, bietet es sich an, mit zwei verschiedenen Arten von Diagrammen zu arbeiten.

Dialogue Map zum Entscheidungsverfahren

Zunächst unterbreitet Basad einen Vorschlag für ein Prozedere der Entscheidungsfindung. Der Titel der Debatte, zu der Basad mit ihrem Text einen Beitrag liefert, bezieht sich auf das Kopftuchverbot. Deshalb liegt es nahe, auch davon auszugehen, dass die Beibehaltung oder Aufhebung des Kopftuchverbotes die Entscheidung ist, um die es hier geht. Mit Hilfe einer Dialogue Map lässt sich der Vorschlag zum Entscheidungsprozedere in einer Form darstellen, dass über die einzelnen Stationen des Prozesses diskutiert werden kann:

Die Dialogue Map spielt zwei verschiedene Lesarten der Intervention von Basad durch. Zentral: Zu aller erst setzt Basad mit ihrer Intervention ein bestimmtes Thema. Als Behauptung ausgedrückt, würde ihre Intervention in etwa lauten: „Um die Frage des Kopftuchverbotes zu diskutieren, mag es verschiedene Wege geben, dies anzugehen. Ich schlage vor, wir unterhalten uns zu allererst einmal über den Vorwurf der Diskriminierung (und nicht über die anderen Themen, die meine Ko-Diskutanten ins Spiel gebracht haben).“ – Zu den nächsten Schritten: Einmal kann die Intervention Basad lediglich als Argument dafür aufgefasst werden, dass Kritik am Kopftuch legitim ist; dann als Argument dafür, das Kopftuchverbot beizubehalten. Für welche der Handlungsoptionen Basad tatsächlich votiert, geht aus ihrem Textbeitrag nicht hervor. Will man den Beitrag aber als Argument im Kontext der Debatte um ein Kopftuchverbot verstehen, muss man sich notgedrungen auf eine Auswahl der gekennzeichneten Optionen festlegen. Die Dialogue Map zeigt: Je nachdem, für welche Route durch den Entscheidungsbaum man sich entscheidet, ist es mehr oder weniger relevant, wie die Antwort auf die beiden Prüffragen tatsächlich auffällt.

Argument Map zur Unterfütterung der O-Töne

Auf einer zweiten Ebene (bzw. nach Einigung auf den einen oder den anderen Lösungsweg) lässt sich betrachten, welche Art von Argument es braucht, um auf die beiden Prüffragen eine positive oder negative Antwort geben zu können. Zunächst das Argument: „Das Kopftuchverbot stellt eine Form rassistischer Diskriminierung dar“ (wobei dahingestellt ist, was daraus in Hinblick auf die Beibehaltung oder Aufhebung des Verbotes folgt). Das Argument, um das es geht, besagt also etwas wie:

„Es mag ja verschiedene Gründe für oder gegen eine Lockerung des Kopftuchverbotes geben. Eines jedoch trifft nicht zu: Dass das Verbot – wie von XY behauptet – eine Form von rassistischer Diskriminierung darstellt!“

Die Argument Map zeigt zwei denkbare Lesarten auf:

LINKS: Ein Argument dafür, die Befürworter des Kopftuchverbotes von dem Vorwurf der rassistischen Diskrimienierung freizusprechen, könnte in einer Nutzenabwägung bestehen: ‚Um maximale Rassismusbekämpfung zu erreichen, muss man gerade auch in Deutschland das Kopftuch hart kritisieren – auch wenn dies  „für die Betroffenen eine schmerzhafte Erfahrung sein [mag].“ RECHTS: Ein alternatives Argument zielt darauf ab, die Definition von „Rassismus“ so fassen, dass die Kopftuch-Kritik deutscher Feministinnen nicht darunter fällt. Beide Argumente gehen weit über den O-Ton von Basad hinaus. Will man aus den O-Tönen aber wirklich ein Argument bauen, bedarf es weiterer Prämissen der aufgezeigten Art. Ob man diese für plausible hält oder nicht, ist eine andere Frage. Ziel der Rekonstruktion ist es vielmehr, aufzuzeigen, worauf man sich festlegen müsste, wenn man den mit den O-Tönen eingeschlagenen Weg zuende denkt.

Das Argument lässt sich alternativ auch als direkter Einwand gegen eine Lockerung des Kopftuchverbotes verstehen. Man könnte sagen (sehr überspitzt):

„Ziel sollte sein, Rassismus überhaupt zu bekämpfen. Nicht nur in Deutschland, sondern überall. Je mehr Rassismus-Bekämpfung man mit einer Aktion bewirkt, umso besser. Die muslimische Männerherrschaft verhält sich muslimischen Frauen gegenüber grundsätzlich rassistisch – in vielen Ländern der Welt. Ein Symbol für dieses Verhalten ist das Kopftuch, dass den Frauen aufgezwungen wird. Um den Rassismus wirksam zu bekämpfen, muss man deshalb gerade auch das Kopftuch in Deutschland kritisieren. Nicht deshalb, weil deutsche Muslima notwendigerweise in ihre Unterdrückung einwilligen, wenn sei ein Kopftuch tragen. (Sie können dies auch ganz selbstbestimmt tun.) Dennoch ist es notwendig, dass wir von Deutschland aus ein Zeichen der Solidarität setzen, das sich an die Diskriminierungsopfer der muslimischen Männerherrschaft in anderen Ländern richtet. Wenn wir dabei in die Selbstbestimmung von Muslima in Deutschland eingreifen, nehmen wir das als Bauernopfer in Kauf.“ 

Aus diesem Argument könnte man – anders als aus den anderen beiden Argumente (links, reduziert) man einen direkten Grund für das Kopftuchverbot ableiten. Aber die Prämissen des Argumentes sind, wie gesagt, nicht unbedingt einleuchtend. 

Fazit

Um sowohl die Argumentation und die strategischen Manöver zu rekonstruieren, die Basad mit ihrer Intervention in der Kopftuch-Debatte vornimt, ist es hilfreich, mit zwei verschiedenen Formaten zu arbeiten: Einer Dialogue-Map und einer Argument-Map. Die Dialogue-Map macht den (implizit vorgetragenen) Vorschlag zu Gestaltung des Hypothesenprüfungs-Prozesses explizit und stellt diesen zur Diskussion. Die Argument Map zeichnet nach, welche Zusatzannahmen (Prämissen) notwendig wären, um aus den O-Tönen der Debatte schlagkräftige Argumente zu machen. Auf diese Weise wird deutlich, welche Beweislasten jemand schultern will, der – ausgehend von den O-Tönen – sich gegen die Aufhebung des Kopftuchverbotes stark machen wollte. Gleichzeitig stellt die Argument Map diese Prämissen auch zur Diskussion: einmal explizit gemacht, kann man sich über diese auch streiten.

Ralf Grötker